Jesus, der Hirte:
1 Wo ist mein schäflein, das ich liebe,
Das sich so weit von mir verirrt,
Und selbst aus eigner schuld verwirrt,
Darum ich mich so sehr betrube?
Wißt ihrs, ihr auen und für becken,
So sagt mirs, eurem Schöpfer an:
Ich will sehn, ob ichs kan erwecken,
Und retten von der irrebahn.
2 Ach schäflein! finde dich doch wieder
Zu dem, der dich so herzlich liebt,
Und nie was böses hat verübt
An dir, der sich gelassen nieder,
Um dich zu suchen und zu fassen
Auf seins achiel sonfriglich,
Der nimmermehr dich kan verlassen;
Denn meine lieb währt ewiglich.
3 Ich kan dich ja nicht länger wissen
In selcher abgeschieden heit.
Du laufst nun hin und her zerstreut,
Und mußt die grosse freude missen,
So andre schäflen bey mir finden,
Die nur in meinem schoosse ruhn;
Da sins sie sicher vor den wenden,
Die ihnen könne schaden thun.
4 Du findest eher keinen frieden,
Bis du dich ganz in mich vergelenkt.
Ich bins alleine, der den müden
Kan leben, kraft, erquickung geben.
So komme doch nun bald herzu:
Ach! schone noch dein armes leben,
Und schaffe deiner seelen ruh.
5 Wilst du, o armes Lamm, nicht hören,
Laufst immer weiter weg von mir?
Ruf ich doch sehnlich für und für,
Ob du noch woltest wiederkehren
Zu deinem ursprung, deiner quelle,
Aus welcher du geflossen bist,
Die ja so lieblich und so belle
Von ewigkeit gewesen ist.
6 Kan dich mein rufen nicht erweichen,
Das in der wüsten lauerschallt,
Und in den klüsten wiederhallt;
So bist du wohl recht zu vergleichen
Den barten feisen und den steinen,
Die doch mein wort zerschmeissen kan:
Ach! ich muß vor erbarmen weinen,
Daß da mich nicht willst hören an.
Schäflein:
7 Weß ist die stimme, die ich höre
In dieser wilden müsteney?
Es scheint, als obs der Hirte sey.
Er rufet immer: wiederkehre!
Sollt er mich denn auch irgend meynen?
Ich sehe wohl, daß ich verirrt;
Nun bin ich lahm auf meinen beinen;
Ach! hätt ich mich nicht so verwirrt.
Hirte:
8 Ich will dir keine ruhe lassen,
Ich will dich locken, bis du hörst,
Und dich von herzen zu mir kehrst:
Ach! wie will ich dich denn um fassen,
Und an mein herz ganz sanfte drücken:
In liebes-seelen solt du gehn,
Denn wird kein feind dich mehr berücken,
In meine hürden solt du stehn.
Schäflein:
Ach holder ˍirt! ich komm gelausen,
So gut ich kan auf dein geschrey,
Du mußt mich aber machen frey,
Und selber bringen zu dem haufen
Der andern schäflein, die dich kennen,
Die dich nur ihre augen-lust
Und allerliebsten Hirten nennen.
Nun, drück mich vest an deines brust.
Source: Erbauliche Lieder-Sammlung: zum gottestdienstlichen Gebrauch in den Vereinigten Evangelische-Lutherischen Gemeinen in Pennsylvanien und den benachbarten Staaten (Die Achte verm. ... Aufl.) #267